Vogelzug

Mikroevolutionäre Prozesse am Beispiel des Vogelzugs

In ganz Europa ist in dieser Zeit eine Änderung des Zugverhaltens vieler Vogelarten zu beobachten, im Wietingsmoor und der ganzen Region ist die zunehmende Rast von Kranichen und Gänsen seit etwa dem Jahr 2000 besonders auffällig. Tausende Kraniche versuchen in der Region zu überwintern – eine völlig neue Entwicklung, wie der BUND feststellte.

Geht man davon aus, dass die Erde jung, also keineswegs Millionen Jahre, sondern einige tausend Jahre alt ist, dann müssen reale evolutionäre Prozesse in relativ kurzer Zeit abgelaufen sein. Wie schnell können aber solche Entwicklungen ablaufen?

In diesem Zusammenhang erscheinen Untersuchungen interessant, die Prof. Dr. Peter Berthold und Kollegen des Max-Planck-Instituts für Ornithologie (Vogelwarte Radolfzell) an Mönchsgrasmücken, Garten- und Hausrotschwänzen durchführten. Durch Zucht dieser Arten und mit Hilfe sogen. Registrierkäfige gelang es dieser Forschungsgruppe nachzuweisen, dass das Wanderverhalten der Zugvögel genetisch gesteuert wird. Sämtliche Merkmale der Zugaktivität wie Zugrichtung, jahreszeitliches Auftreten, Dauer der Aktivität u.a. werden ererbt und nicht von den Eltern erlernt.

Eine zentrale Rolle bei den Untersuchungen spielte der Teilzug z.B. der Mönchsgrasmücke. Unter Teilziehern versteht man eine Population, die zum Teil aus Standvögeln (das sind Individuen, die nicht ins Winterquartier abwandern, sondern das ganze Jahr im Brutgebiet bleiben) und zum Teil aus Zugvögeln besteht. Die Vögel verschiedener Generationen wurden hinsichtlich ihres Zugverhaltens geprüft und dann wurde selektiv gezielt weitergezüchtet. Die spannende Frage lautete, ob sich bei einer teilziehenden Ausgangspopulation bereits nach wenigen Generationen eine ausschließlich ziehende oder eine nicht ziehende Population züchten ließe.

Prof. Dr. Berthold:
„In der Tat konnten bereits nach drei Generationen eine ausschließlich zugaktive und nach fünf bis sechs Generationen eine (nahezu) nicht mehr zugaktive Population selektiert werden…

Inzwischen wissen wir, dass entsprechend schnelle Veränderungen des Zugverhaltens auf genetischer Basis auch in freier Natur vorkommen. Vor reichlich 30 Jahren begannen mitteleuropäische Mönchsgrasmücken , die bis dahin ausschließlich im Mittelmeerraum und in Afrika überwinterten, zum Teil in Winterquartiere auf den Britischen Inseln auszuweichen. Seither hat sich das neuartige Zug- und Überwinterungsverhalten rasch verstärkt – heute verbringen bereits Zehntausende mitteleuropäischer Mönchsgrasmücken die kalte Jahreszeit auf den Britischen Inseln.

Durch Orientierungs- und Brutversuche mit in England während der Überwinterung gefangenen Individuen konnten wir zeigen, dass die neuartige nordwestliche Zugrichtung auf die Nachkommen vererbt wird. Sie ist demnach in wenigen Jahrzehnten durch Selektion oder Mikro-Evolution entstanden. Das hat unsere bisherigen Vorstellungen von der Geschwindigkeit solcher Selektionsvorgänge auf eine völlig neue Grundlage gestellt.“

Quelle:
Vortrag von Prof. Dr. Peter Berthold aus dem Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2001